Malerei

Ulrich Krempel, 2020

 

Peter Tuma ist in der Welt. Seine Kunst hat – über mehr als fünfzig Jahre nun schon – im Leben des Künstlers in unserer Zeit ihre Wurzeln, in unserer Gesellschaft, ihren Errungenschaften und Problemen, ihrer Geschichte und Gegenwart. Peter Tuma schaut auf die Dinge und die Verhältnisse der Menschen in dieser Welt und findet in ihnen die Anlässe seines Arbeitens. Er spiegelt sein Leben, Denken und Sehen in seiner Kunst; vielfältig gebrochen, verändert, verformt. Er gibt Bilder, die das Ergebnis seiner Arbeit eines Einzelnen in dieser Welt sind, und knüpft dabei an das Leben, die Arbeit, die Visionen vieler anderer Menschen an, die vor und neben ihm Ähnliches tun oder getan haben. Dabei geht sein Blick in die Vergangenheit ebenso wie auf die Gegenwart. Bezugspunkte sind ihm die Bauwerke der Antike ebenso wie die Gegenstände katholischer Heiligenverehrung, Traditionen der japanischen Kunst und die Welt des Fußballs, die Massenmedien wie auch die elektronische Überwachung, private Dramen oder die soziale Wirklichkeit des heutigen Deutschland. Die Mythen des Alltags sind da zu finden wie auch die des europäischen Altertums; dazu eine ganze Welt sprechender Alltagsgegenstände, die eine ganz eigene Ikonografie erschaffen. Die Arbeiten der letzten zwanzig Jahre stehen dabei in einem Kontinuum der Themen und ihrer beständigen Veränderung zugleich. Die Sprünge sind gelegentlich überraschend, etwa der von der sakralen Ikonografie in die Banalität der populären Bildwelt des Fußballs. Immer aber werden die Sujets mit der gleichen Sorgfalt und Penibilität der Komposition behandelt, stehen oder liegen uns auf der Bühne des Bildraums vor Augen, uns, den Augenzeugen dieser Bildwelten.

Der Blick auf die Dinge, der Blick ins Bild

In Tumas frühesten Arbeiten, den Bergen, Gewächshäusern, Stadtstücken und Landschaften der 1970er und 1980er Jahre, dominiert eine dynamische Aufsicht des Betrachters auf die dargestellten Strukturen und Oberflächen. Oft ragen die angeschnittenen Architekturfragmente und Landschaftsoberflächen rasant schräg steigend, angeschnitten ins Bildfeld: Monochrome Hintergründe hinterfangen die Gegenstände im Bild. Vielfach im Gegensatz des Hell - Dunkel organisiert, stehen Ding und umfangender Raum klar durch Konturlinien getrennt nebeneinander und suggerieren doch, durch die starke Fluchtung als

Ergebnis der Aufsicht wie auch durch die etwaigen Strukturverläufe der Architekturen oder Landschaftsoberflächen, die Einheit des Dings mit dem ihn umgebenden Raum. Als Beispiele seien da Stadtstück Paris von 1975 oder Küstenbebauung/Landnahme von 1980/82 genannt. Die Bilder gewähren den Betrachter*innen einen Überblick über Stadt und Land; diese Sicht hat ihre Grenzen nur durch den Rahmen des gewählten Bildausschnitts. Unsere Sichten gehen weit, wie im Überflug über ein unter uns klar sichtbares Terrain.

Auch in den fächerförmigen Stauwerken der 1970er und 1980er Jahre, beeindruckend mit ihren klaren Konstruktionslinien, ist es wieder die Aufsicht auf die Strukturen, die die Bilder dominiert. Hier sind jedoch die Konstruktionen ausponderiert mittig ins Bildfeld gestellt, mit dem Fußpunkt des Bauwerks auf der Unterkante des Bildfeldes, und symmetrisch mit diagonalen Begrenzungen zu den senkrechten Bildkanten aufsteigend. Gelegentlich berührt der Scheitelpunkt des oberen Bogenverlaufs die obere Bildkante ebenfalls mittig. Der Künstler erschafft da den Raum in streng klappsymmetrischer Gestaltung der Komposition. Gegenüber dem früheren dynamischen Anflug ins Bild konfrontieren uns Kompositionen wie Großes Stauwerk, 1976/79 oder Stauwerk, 1981 nun mit ruhiger, geradezu monumentaler Statik des Gezeigten. Aber auch hier ist, in sanfterer Aufsicht, die komplette Information der Betrachter*innen garantiert; wie in einer dynamisierten Bauzeichnung wird uns die Übersicht über die kausalen Zusammenhänge der Konstruktion gewährt.

Veränderungen im Betrachterstandpunkt finden sich in den nahezu zeitgleich entstehenden Theaterdarstellungen (etwa 1981-86), wie Großes Apollo-Theater, 1986. Hier liegt der Betrachterstandpunkt noch deutlich höher, weit unter ihm erstreckt sich das – nur in Teilen ausgeführte oder erhaltene – Amphitheater. Partien der Konstruktion sind verschwunden, nicht mehr – wie etwa im Stauwerk von 1981 – lediglich nicht ausgeführt oder nur in Vorzeichnungen erhalten. Die Gegenwart eines schon historischen Bauwerks gibt nun eine neue Dimension in der Darstellung. Auch die Boote dieser Jahre – ihrerseits klar konstruierte räumliche Elemente – gewähren Auf-, An- und Einsichten in ihr Gebautsein, aber dies in der Regel außerhalb ihrer praktischen Bestimmung. Spanten und Planken sind klar sichtbar, in Aufsicht auf liegende Boote wie in Ansichten von Konstruktionszeichnungen ist das Boot als Gefäß verständlich, aber stets nicht in seiner eigentlichen Funktion. Immer liegt es auf Land oder vor Anker.

Von der Aufsicht zur Ansicht

Mit dem Wechsel zu einer ausdrücklich malerischen Handschrift, dem Verzicht auf die konstruktive Rolle der (Bau-)Zeichnung, verändert sich auch der Blick auf die Dinge. Flächiger treten uns die Bilder gegenüber, bauen Raum eher durch die Binnengestaltung der Gegenstände. Seit dem Ende der 1980er Jahre treten uns Ikarus und Dädalus – die gescheiterten Fliegenden – in der Mitteilungsform des pars pro toto entgegen. Das Flügelpaar des Dädalus vor Lanzarotevon 1991 liegt vor uns auf einer angedeuteten Kreisform, dem Teller. Raum entsteht zum einen durch die angedeutete Aufsicht auf die Kreisform; die Flügel zeigen Raum nur in der Binnenform. Alles aber ist hier eingebettet in die zentrierenden, das Bildfeld kreisförmig umfassenden Strukturen des Farbauftrags. Die Handschrift des Malers wird ablesbar, ist gewollt sichtbar, zeigt das Gemachtsein des Bildes. Und stärker noch erscheint das in der langen Folge von Reliquienbildern, welche Köpfe und Herzen präsentieren, die uns in direkter Ansicht vorgeführt werden oder in nur geringer Aufsicht, gekippt liegend vor nur malerisch aufgefasstem Fond. Zunehmend gewinnt in den Bildern der Jahre nach 1990 auch das Weiß des Bildgrundes Präsenz. Es hinterfängt die nunmehr malerische Lineatur der Fixierung des Gegenstandes; der Maler suggeriert uns Raum oft eher durch Andeutungen, Kurvenverläufe etwa, Überschneidungen und Staffelungen. Oder auch durch das die Räumlichkeit ergänzende aktive Sehen der Betrachter*innen, das durch die vom Künstler gegebenen Kürzel – Farbe als Linie und konturierende Flächen, vor einem weißen Grund, der Fläche ebenso wie Raum suggerieren könnte – provoziert wird. Die Einheit des Bildfeldes unterstützt, wie auch die häufige Positionierung des Bildgegenstandes im Zentrum der Fläche, das kontemplative Schauen auf die Dinge. Wir betrachten nun auch die abgebrochenen Prozesse des Malens, da etwa, wo – wie in den Pathetischen Stillleben – Flächen unfertig überlasiert werden, der Strich des Pinsels inmitten der Bewegung abbricht. Aus diesen Abbrüchen springt uns Zeit an; von ihnen her wird jene Zeit erahnbar, die die Hand des Künstlers vom Beginn der Arbeit bis zu deren Fertigstellung durchlaufen hat.

Die Folge der Pathetischen Stillleben eröffnet dann eine neue, kombinatorische Bauform der Bilder. Linie und Fläche dominieren, Arbeitsspuren bleiben stehen. Das Prinzip der Reihung und zeilenhaften Wiederholung einzelner Elemente organisiert nunmehr zunehmend die Bildhintergründe. In Stillleben mit Urnen und Pokalen von 1998 etwa wandelt

sich die religiöse Gefäßform in die der Sportpokale; ein Transfer, der ironisch mit der heutigen Adaption ehemals bedeutungsschwerer Gefäßformen für vergleichsweise profane Anlässe spielt. Die Aufschrift Victoria am Rand eines der Gefäße gibt eine Richtung für das Bildverständnis an, die in Sieg, Sieg, rot-gelb und Objekte des Triumphes aus dem gleichen Jahr deutlich in die Sphäre des – alles bedeutenden – Fußballs in Deutschland mündet. Die Liste mit den ausgestrichenen Namen namhafter deutscher Fußballklubs der unteren Ligen – Ar(minia Bielefeld) und 1860 München sind da noch rekonstruierbar – schafft einen Transfer zu den zwei verdunkelten Aufsichten auf Schalen und Pokale, die irgendwo im Nirgendwo, nebeneinander ineinander verschwimmen. Arbeiten wie die in schräger Aufsicht organisierten Liga-Embleme von 2002 oder die drastische, nahezu zynische Die Ausschüttung des Heiligen Geistes über den BVB von 1998 bringen die Auseinandersetzung mit dem wichtigsten deutschen Religionsersatz auf einen deutlichen Punkt.

Neue Strategien des Erzählens

Immer öfter hat Peter Tuma in den letzten Jahren das klassische Einzelbild überwunden. Etwa schon früh da, als er aus einer Folge seiner Köpfe eine wandgroße Installation baute (Titel der Arbeit), als er 2004 15 Arbeiten aus der Folge der Stillleben Standard zu einer Bilderwand zusammenfasste oder als er 2019 die Folge Treibgut am Wege als neunteiliges Gesamtbild inszenierte. Das Arbeiten an ganzen Folgen von Gemälden zum gleichen Thema ist eine der malerischen Strategien des Künstlers. Oft hat er in Ausstellungen und Katalogen dann aber Werke aus solchen Suiten miteinander kombiniert, und wie als logische Folge aus solcher Kombinatorik entstehen weitere große Kompositionen, in denen Reihung und Folge zum Gestaltungselement werden.

Da etwa, wo er in den Fußballbildern wie Liga-Embleme (2002) eine große gereihte Bildkomposition zusammenstellt, aus einer Folge von durch gemalte Bildkanten voneinander getrennten Einzelbildern, ein Verfahren, das er in Arbeiten wie Große Emblemewand von 2000 als Kompositionsprinzip im großen Format bereits realisiert hatte. In Tafel des Triumphes von 2001 wird solche Reihung als Muster einzelner ellipsoider Formen wiederholt. Diese liegen aber nun über mehreren Malschichten, von einem dunkelgrünen Grund über eine helle Übermalung des Grüns, die aber wiederum auch eine der elliptischen Emblemformen überstreicht. Fläche und Raumindizien stehen hier gegeneinander, das Bild gibt so keine Indikationen mehr für nur eine stimmige Ansicht der Szene.

In diesen Jahren findet sich auch das Diptychon, als Möglichkeit eines eher dialogischen Bildaufbaus, immer wieder. In Anna’s Stillleben (2001) stehen da eine flächig überstrichene Bildtafel in Rosa und Grau und: eine in einem unbestimmten Raum fluchtende Ansammlung von Gefäßen auf flächigem Grund nebeneinander. Zwei Möglichkeiten des Malens scheinen hier, über die inhaltliche Ebene hinaus, gegeneinander diskutiert zu werden: die Vermeidung jeder Abbildhaftigkeit und die Schilderung des Wirklichen in einer poetischen Interpretation. Und in Bio-Bonsai (2002) steht das Gewächs in der Schale neben einer Bildtafel, die eine allenfalls textile Struktur malerisch abstrakt entwickelt.

Das Diptychon wird gelegentlich zur Bildergeschichte, zum Ort eines Erzählens in unterschiedlichen Behandlungen einer Szene. Etwa in den beiden Arbeiten Große Idylle (2008) und Auszug aus der Idylle (2014). Schon im ersten Bild ist der duale Blick auf das Thema angelegt, links die addierte häusliche Szene mit Ohrensesseln, Lampe, Tisch und einem großen Bratenstück, alle Elemente einzeln schwebend in einem gemeinsamen Raum, angedeutet durch die Ellipsen auf dem Boden. Rechts dagegen ein weißer Bildgrund, Malspuren aufweisend, daneben ein gekippter Sessel, ein Tisch mit umfallender Blumenvase. Die Linie konstruiert die Gegenstände, in rot oder schwarz gesetzt. Ein Durchblick durch den hellen Bildgrund auf einen Aschenbecher mit brennender Zigarette, wiederum linear-zeichnerisch ausgeführt, durchbricht erneut jede Vorstellung von einem einheitlichen Bildraum. Im zweiten Gemälde dann eine Fortführung des Themas. In der linken Bildhälfte der Aufblick auf eine Szene mit Sofa, Tisch, Lampe und Zimmerpflanze; mit einem gekippten Hocker und einem geöffneten Karton wird eine gewisse Unordnung sichtbar. Dazu auf dem Tisch eine graue Hausform und ein geöffnetes Schränkchen, beide klein, eindeutig aus einer anderen Dimension stammend. Die rechte Bildtafel fast geisterhaft, in roter, immer wieder unterbrochener Lineatur auf dem weiß-gelben Fonds erlaubt einen Blick von links oben auf eine Szene, wie die eines Bühnenbilds gebend, mit einer leicht geöffneten Tür, Schränkchen und Stuhl. Auf dem Boden aber Schuhe, in Richtung auf die vordere Bildkante zur Tür hin stehend, und vor der Tür ein gestürzter Damenschuh. Das Drama, dessen wir hier ansichtig werden, spielt sich still und ohne Anwesenheit von Figuren ab. Von ihnen zeugen nur die Dinge, die ihnen zugehören. So auch im großen Triptychon Schögels Schicksal von 2013, in dem der Maler einem verarmten und verschwundenen Menschen aus Schöningen ein Denkmal setzt. Die Bildfelder, immer aus gleicher Sicht – von oben links gesehen – gebaut, erzählen von einem schrittweisen Niedergang. Von der linken Szene mit Kommode, Einkaufstüte, Bowlerhut und Hausplastik, auf einem Boden von lauter Emblemen stehend, geht es in die dunkle, schwarzgrundige zweite Szene, mit Sofa und Stehlampe, in der nur Tisch, Hut, Braten und (Vogel-)Haus in helle Farben gesetzt sind. In der letzten Bildtafel dann ein weißer Fond aus Tabletten, auf dem eine leere schwarze Trage mit gefalteter Decke und Hut, ein geöffneter gelber Karton und eine schwarze Kiste zu sehen sind. Schögel selbst ist abwesend, die Schritte der Schilderung in Etappen lassen sein Schicksal deutlich werden.

Solche mehrteiligen Bilderzählungs- und Kompositionsformen entstammen, wie viele Elemente in Tumas Bildern, zum einen der Kunstgeschichte. Die vielteiligen Altarbilder des Mittelalters und der frühen Neuzeit entwickelten bis heute gültige erzählerische Strategien. Und weiter ist das Triptychon eine Bildform, die in religiösem Zusammenhang, etwa auf Altären, der Schilderung der Leidensgeschichte Christi diente. Der Maler schöpft aber auch aus seinem eigenen umfangreichen zeichnerischen Werk, aus dem ihm die Formen der Bildergeschichte ebenso wie die der karikierenden Überzeichnung geläufig sind.

Die Welt der Dinge und Räume

Es fällt nach weitem Blick über das Werk von Peter Tuma auf, dass in seinem malerischen Œuvre die menschliche Figur nahezu vollständig fehlt. Das mag zum einen damit zu tun haben, dass im satirisch-zeichnerischen Teil seines Schaffens Menschen in solcher Vielfalt und Typologie vorkommen, ja dieser nahezu vollkommen aus agierenden und karikierten Figuren besteht. Zum anderen aber gibt es Stellvertreter im malerischen Werk für die abwesenden Menschen, um die es, wie wir sehen, ja vielfach geht. Es sind die Dinge, die der Künstler als die Repräsentanten der abwesenden Handelnden vorführt, Gegenstände des menschlichen Gebrauchs; in den Hüten und Schuhen, Möbeln, Schalen und Tellern sind die Spuren menschlicher Anwesenheit noch ablesbar. Solche Gegenstände bilden, in strenger Reihung oder frei über die Bildfelder fluktuierend, oft auch die Bildgründe für Kompositionen. Hier werden sie auch mit Schablonen wiederholt und so identisch reproduziert. Dabei entziehen sich diese Reihungen dann jeder räumlichen Anmutung, sind flächige, grafische Repetition, gleichen Stoffen oder exzentrischen Tapetenmustern. Vor allem aber blicken wir immer wieder in bewohnte, wenn auch menschenleere Räume, Orte, an denen Szenen menschlichen dramatischen Handelns ablesbar sind, gerade auch in ihrer Menschenleere. Wir stehen diesen Szenen gegenüber, schauen in oder auf Bühnen, die sich oft in diagonalen Blickwinkeln öffnen, und werden auf sanfte Art durch die komplexe Konstruktion der Szenen in die Haltung von Voyeuren gezwungen, Voyeure indes, die, geführt durch die Titel der Bilder, den Vorgaben des Künstlers zu folgen haben.

Von der Intimität ins Öffentliche

In den letzten Jahren hat sich der Blick des Malers auf die Welt erneut gewandelt. Wie wir alle ist auch er einer, der den Bildern einer rasant veränderten medialen Wirklichkeit ausgesetzt ist. Unsere Welt wird heute längst mit mechanisierten Optiken und Spionageapparaten aller Art gesehen und dokumentiert. Das verändert Blickwinkel und Sichtweisen nachhaltig. Bilder aus einer Dokumentation im Fernsehen bilden die Quelle für die Folge der Stills von 2016/17, in denen Innen- und Außenansichten von zivilen und militärischen Überwachungsbildern, Zielanflugszenen von Raketen, Alarmmeldungen von entdeckten Flugkörpern in Tumas Gemälde umgesetzt sind. Auch hier fasziniert den Maler die Bedrohlichkeit der Szenerien, die längst dem Privaten seiner vorherigen Gegenstandswelten entwachsen sind. Die Auf- und Ansichten auf Straßen, Flure, Flughäfen, Rollbahnen und Brücken sind indes heute durch Internet, Computerspiele und Medien so ubiquitär, dass der Maler die Folge beendet hat. »Heute merke ich, dass es längst von der Wirklichkeit eingeholt und als Szenario keinen Eindruck mehr macht. Wurde deshalb nicht fortgesetzt. Stehe aber noch zu den Bildern.«[1] Solches Statement macht deutlich, dass Tuma seine Bilder, die sich auf die Wirklichkeit unserer Welt beziehen, nicht allein als aktuelle politische Werke versteht; vielmehr geht es ihm vor allem auch um deren Gültigkeit als Kunstwerke in einem Werkzusammenhang, der von der Leistung des Künstlers ausgeht. Dabei wird eine Anteilnahme des die Welt und ihre Bilder sehenden Künstlers spürbar, die Gesehenes, Erlebtes und Erlittenes immer wieder in eine große Bildform überführt. In The Day After (2018) ist Ausgangspunkt »ein Foto aus dem Schutt von Fukushima geborgener Familienfotos«.[2] Das Thema des Atomunfalls war schon in Tepco‘s Garden zum Thema geworden. Hier aber baut Tuma ein Diptychon, in dem einzelne Bildfelder collageartig ineinandergeschoben erscheinen, einander durchdringen oder überlagern. So entsteht ein Bild, in dem sich fotografische Momente, Zeichnerisches und Malerisches auf unauflösliche Weise miteinander, gegeneinander, übereinander verbinden. Da wird das Gemälde zum Komplexbild, in dem sich Elemente des Traditionellen und Privaten, der kompositorischen Dramatik und Verweigerung von Einsicht in ganze Bildpartien mittels großformatiger gemalter Dunkelflächen zusammenschließen. Und es verbleibt den Betrachtern, sich aus diesen gleichsam atomisierten Partikeln die eigene Version der Geschichte zusammenzusetzen.

Aufsicht, Ansicht, Einsicht: Die neuen Bilder

2019 ist das Jahr einer intensiven Bilderproduktion, in ihm entstehen ganz neue thematische Folgen, wie jene um die Baumhäuser, die Bäume, den Wald. In Ländliche Idylle blicken wir in einen aufsichtig gefluchteten Raum, mit extrem angeschnittenen Bäumen im Vordergrund, Plastiktanks im linken vorderen Bildteil, einer Paradereihe von Birken im Mittelgrund des Bildes. Ein Vogelhäuschen und Futterstationen fügen sich in die oberen Bereiche der vorderen Bäume. Die Reihung der Bäume und ihre starken Senkrechten dominieren die Komposition. Die hell belassenen architektonischen Kleinelemente verschwinden fast in den Sprüngen zwischen Vorder- und Mittelgrund. Die rosa und hellgrün gesetzten Tanks mit ihren »Balkonfarben«, wie sie der Künstler nennt, schaffen keine starken Kontraste zu den fahlen Gelb- und Ockertönen des umgebenden Geländes. Im Diptychon Waldfrieden mit seinem extremen Querformat dagegen ist der nahezu vollständige Verzicht auf Farbe dominant. So ist der Wald in der rechten Bildtafel als schwarze Reihung von Silhouetten angelegt. Die dominante waagerechte, schwarze zeichnerische schraffurähnliche Lineatur dagegen, die sich über beide Tafeln zieht, gibt die – von nur zwei spiegelnden Farbflecken unterbrochene – Oberfläche eines Teichs oder Sees. Hier greift der Zeichner Tuma auf seine Erfahrung mit der japanischen Tuschzeichnung zurück und setzt in diese verblüffende Komposition dann nur noch den Titel des Bildes inmitten der Zeichnung. Regelverstoß dieses, der der gesamten Komposition den Aspekt einer lebendigen andersartigen Ästhetik gibt.

Zugleich aber gibt es erneut Rückgriffe auf Themen und Szenen, die der Künstler zuvor entwickelt hat. In seinem Bild zu Becketts Text Das Ende greift Tuma jene Orte und Elemente auf, die er in Schögels Schicksal schon formuliert hatte. Der Blick in die Kleiderkammer, auf deren Regalen immer dieselben Hüte und Mützen lagern, auf Schuhe und Hüte im Raum, unter den waagerecht und diagonal gestellten bonbonfarbenen Bänken, auf die uns die vom Maler extrem forcierte Aufsicht nahezu herabstürzen lässt. Die Herrenbekleidungsstücke, die angeschnitten in den Raum hineinhängen. Der aus einem Anziehpuppenbogen ausgeschnittene Herrenmantel mit blauen Umklappelementen an den Rändern. Leichte Übermalungen auf dem grauen Bildgrund, und unter all diesem eine gestürzte, diagonal liegende Birke; der Maler fügt da seine handelnden Elemente zur Erläuterung eines Textes zusammen, der ihm der Ausgangspunkt war für diese Arbeit: »Sie kleideten mich und gaben mir Geld. Ich wusste wozu das Geld dienen sollte, es sollte dazu dienen mir auf die Beine zu helfen. Sobald ich es ausgegeben hätte, müsste ich mir neues beschaffen, wenn ich weitermachen wollte. (…) Die Kleider – Schuhe, Socken, Hose, Hemd, Rock und Hut – waren nicht neu, der Tote musste aber ungefähr meine Figur gehabt haben.«[3]

Und wie jetzt diese Annäherung an die Malerei von Peter Tuma beenden? Vielleicht mit einem einfachen nochmaligen Verweis auf die Vielfalt seiner Sichten auf die Welt, und uns in ihr. Tumas Aufsichten und Ansichten, seine Zeichnungen wie die großen gebauten Gemälde fügen die Dinge in ihnen auf vielfache, neue, oft irritierende oder melancholische Weise zusammen. Und auch, wenn die Menschen in diesen Bildern fehlen, handeln diese Kompositionen doch immer von ihnen. Immer geht es um Einsichten in die Verhältnisse, in und um uns, in dieser Kunst.

Ulrich Krempel, Malerei, in: Peter Tuma. Am Wege / En Route, Kerber Verlag, Berlin 2020, S.10 - 47.


[1] Peter Tuma in einer Mail 17. 09. 2019 an den Verfasser.

[2] In der gleichen Mail.

[3] Samuel Beckett, Das Ende, in: Erzählungen und Texte um Nichts, Bibliothek Suhrkamp Bd.82, Frankfurt am Main 1990, S. 57.